Allgemeine Psychotherapie
Die Psychotherapieforschung zeigt immer wieder, dass die Wirksamkeit von Psychotherapie dann gesteigert werden kann, wenn man sie mit individuell auf die Person zugeschnittenen Interventionen gestaltet. Diese dürfen, sinnvoll miteinander kombiniert, durchaus unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen entstammen.
Die Entwicklung einer therapieschulenübergreifenden Allgemeinen Psychotherapie ist in den letzten Jahren entscheidend von dem 2005 verstorbenen Berner Psychotherapieforscher Professor Klaus Grawe geleistet worden. Seiner Theorie zufolge streben Menschen nach weitgehender Abstimmung aller gleichzeitig ablaufenden unbewussten und bewussten psychischen Prozesse aufeinander (= Konsistenz). Je mehr diese Prozesse miteinander im Einklang stehen, desto besser ist die persönliche Auseinandersetzung mit und Anpassung an die Umwelt.
Laut Grawe wird Konsistenz insbesondere dann erreicht, wenn vier Grundbedürfnisse befriedigt werden, die allen Menschen gemeinsam sind:
- Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
- Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
- Bedürfnis nach Bindung
- Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung
Die Bedürfnisse sind individuell unterschiedlich stark ausgeprägt und nicht für jede Person und zu jeder Zeit gleich wichtig; oft ist die gleichzeitige Befriedigung auch gar nicht möglich. Die Annahme ist hier, dass man dann von einer gesunden und stabilen Psyche ausgehen kann, wenn einer Person die Befriedigung dieser Bedürfnisse über lange Zeit hinweg insgesamt gut gelingt. Ist dies nicht der Fall, ist der Mensch anfälliger für die Entstehung psychischer Störungen. Mögliche Gründe für eine weniger erfolgreiche Befriedigung der Grundbedürfnisse können beispielsweise sein: wiederholte Gewalterfahrungen, mangelnde Zuwendung und Zärtlichkeit durch enge Bezugspersonen, wenig Bestätigung und/oder Anerkennung der eigenen Person oder wenige Erfolgserlebnisse in wichtigen Lebensbereichen.
Eine fehlende Befriedigung von Grundbedürfnissen kann nun zum einen „der biografische Nährboden“ für die Entwicklung einer individuellen Empfindlichkeit/Anfälligkeit für psychische Erkrankungen sein – dafür verwenden wir den Begriff der Vulnerabilität. Das Auftreten einer spezifischen psychischen Störung wie beispielsweise einer Depression geschieht zum anderen nicht selten zu einem Zeitpunkt im späteren Leben, zu dem die Grundbedürfnisse erneut frustriert werden, beispielsweise durch Unzufriedenheit in der Partnerschaft oder dem Verlust des Arbeitsplatzes etc.
Aus diesen Punkten ergibt sich eine zentrale Folgerung für die Psychotherapie: Sie sollte als Ziel eine Verbesserung der Bedürfnisbefriedigung des Klienten im Auge behalten und nicht ausschließlich auf die Symptomatik fokussiert werden (das kann ausreichend sein, ist es aber in vielen Fällen nicht!). Dies wird durch die Orientierung an den folgenden Prinzipien ermöglicht:
- Prinzip Ressourcenaktivierung: die Förderung und Reaktivierung von Ressourcen beim Klienten, also seiner Fähigkeiten und Stärken.
- Prinzip Problemaktualisierung: Aktivierung derjenigen Erlebens- und Verhaltensweisen, dieUnzufriedenheit erzeugen. Ziel ist, diese einer bewussten Bearbeitung und Veränderung zugänglichzu machen.
- Prinzip der emotionalen und motivationalen Klärung: das Verstehen dieser Erlebens- und Verhaltensweisen, also ihrer Ursprünge, in welchen Situationen sie ausgelöst werden und welche Bedeutung sie für die aktuellen Schwierigkeiten im Leben des Patienten haben
- Prinzip der Bewältigung: die Bereitstellung von Interventionen für die Bewältigung von Problemen – der Klient soll die Erfahrung machen, dass seine Schwierigkeiten bewältigbar sind.
Neben diesen Prinzipien wird der Gestaltung der Beziehung zwischen Klient und Therapeut in der Graweschen Konzeption eine besondere Bedeutung eingeräumt. Die Orientierung an Grundbedürfnissen schlägt sich auch dabei besonders nieder. Jeder Mensch hat individuelle Bedürfnisse und Wünsche, wie sich der Kontakt zu anderen Menschen gestalten soll und wie sich andere ihm gegenüber verhalten sollen. Der Therapeut bezieht diese Beziehungsbedürfnisse jedes Klienten in sein therapeutisches Verhalten mit ein, um den therapeutischen Prozess so fruchtbar wie möglich zu gestalten.
Eine aus meiner Sicht sehr spannende Entwicklung in den letzten Jahren ist der Versuch, neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung und den Neurowissenschaften für ein vertieftes Verständnis und eine Verbesserung psychotherapeutischer Interventionen zu nutzen. Dafür hat Klaus Grawe den Begriff der „Neuropsychotherapie“ geprägt.